Wir müssen Kinder heute, in völlig anderer Weise, mit einer anderen Art von Anstrengung großziehen. Wir müssen mehr nach innen schauen, in uns selbst, statt ständig auf die Kinder. Das ist sehr schwierig, weil unsere Werte, die Kinder betreffen, verkrustet sind. Kinder haben in unserer Kultur an Achtung und Respekt verloren.
Auch für die Erwachsenen ist das traditionelle Erziehungsverhalten schädlich. Es hält sie in einem Rollenschema fest und verhindert eigenes Wachstum.
Jesper Juul
Im Folgenden fasse ich nun die mir wichtig erscheinenden Werte, bzw. Grundpfeiler von familylab zusammen, die mir auf dem Weg zu einer gleichwürdigen Eltern-Kind-Beziehung hilfreich und sinnvoll erscheinen.
Die Plattform familylab International wurde von Jesper Juul (dänischer Lehrer, Individual-, Paar-, Gruppen- und Familientherapeut, Konfliktberater und Buchautor) gegründet und ist eine internationale Organisation für Beratung, Training und Kompetenzentwicklung. Es werden Themen aus Erziehung, Familienalltag und Partnerschaft behandelt. Eines der Ziele dieser Plattform ist es, Familien, Organisationen und Gesellschaften dazu zu inspirieren, sich und ihr Gegenüber ernst zu nehmen und mit Respekt zu behandeln. Es geht unter anderem um Gleichwürdigkeit, elterliche Wertschätzung und Hinführung zu Eigenständigkeit.
FAMILYLAB WERTE
GLEICHWÜRDIGKEIT heißt weder Ebenbürtigkeit noch Gleichheit. Tatsächlich haben Eltern mehr Wissen, Kraft und Macht als das Kind. Dennoch können die Gefühle, die Gedanken, Bedürfnisse und Interessen des Kindes als gleichwürdig geachtet werden – das Kind kann mit seiner Welt ernst genommen werden.
Das bedeutet nicht, dass dem Kind alle Wünsche erfüllt werden, aber zumindest wird es mit diesen Wünschen angehört und respektiert, auch wenn ihnen nicht immer entsprochen werden kann.
In einem gleichwürdigen Dialog bringen beide Gesprächspartnerinnen ihre Gedanken, Wertvorstellungen, Gefühle, Träume und Ziele zum Ausdruck, anstatt zu theoretisieren oder über den anderen hinweg zu sprechen. Durch die Verinnerlichung, uns gegenseitig die „gleiche Würde“ zuzugestehen, ist ein konstruktives Miteinander und eine gesunde Entwicklung möglich.
EIGENVERANTWORTUNG ist die Verantwortung für unser eigenes Verhalten, unsere Gefühle, unsere Reaktionen, unsere Werte. Verantwortung zu übernehmen, heißt auch, Fehler einzugestehen, sich zu entschuldigen.
Eltern sind zudem in jeder Situation verantwortlich für die Qualität der Beziehung. Kinder sind schlicht nicht in der Lage, diese Verantwortung zu übernehmen. Sehr wohl wissen Kinder aber, wann sie satt sind oder Hunger haben. In der Kommunikation sollten alle über die eigenen Gefühle sprechen können und ernst genommen werden.
Vor allem sollte das Kind nicht definiert werden: „Ich fühle mich gerade gestresst“ fühlt sich für das Kind anders an als „Du bist unmöglich, du nervst.“
INTEGRITÄT bedeutet in der Familie, dass Eltern lernen, ihre eigenen persönlichen Grenzen zu äußern, anstatt äußere Grenzen für Kinder zu definieren. Statt Kinder einzugrenzen, sollen Erwachsenen lernen, sich selbst Grenzen zu setzen, ihre eigenen persönlichen Grenzen kennenzulernen und in einer persönlichen Art und Weise auszudrücken.
„Es ist mir zu laut. Kannst du leiser sprechen?“
„Ich will heute Abend ein paar Stunden für mich sein, also bringe ich euch ins Bett.“
„Nein, ich will dir jetzt kein Eis kaufen. (Du bist noch erkältet.)“
Zu einem ‚Nein‘ zu stehen, ohne sich dabei in eine Machtposition über das Kind zu erheben – das sind nach Juul die Lernaufgaben für die Eltern. Besonders für jene, die das Kind immer glücklich sehen wollen. Grenzen sollten sich niemals aus Konventionen oder Regeln ergeben, es sollten persönliche Grenzen der Familienmitglieder sein. Ein Kind lernt, Grenzen zu achten, wenn seine Grenzen ebenfalls geachtet werden.
AUTHENTISCH ist eine Person, die verlässlich und vertrauenswürdig ist – sie ist echt und lebt nach der eigenen inneren Führung, ohne dabei jemanden (auch nicht sich selbst) zu verletzen oder zu kränken. Wichtige Bausteine dazu:
• Wahrung der eigenen Integrität,
• Wahrung der Integrität des Gegenübers,
• Sich seiner Werte bewusst sein,
• Aus dem Herzen sprechen,
• Bereitschaft zu einem (gleichwürdigen) Dialog.
Authentisch man selbst zu sein, ist auch eine große Erleichterung: Wir brauchen nicht mehr in einer Elternrolle leben, die bedeutet, immer nett und freundlich zu sein. Es reicht, wenn wir so sind, wie wir sind, damit haben wir schon genug zu tun.
Damit wir in der Beziehung zum Kind authentisch führen/begleiten können, brauchen wir in erster Linie einen guten Zugang zu unserem Selbst (ein intaktes Selbstgefühl); also die Fähigkeit, den Blick nach innen zu kehren und nach außen zu fühlen. Der Fokus liegt immer darauf, dass alle in der Familie sagen können, was sie fühlen und damit ernst genommen werden. Das bedeutet auch, dass Eltern Fehler machen und Schwäche zeigen dürfen. Dass sie weinen, schreien und verzweifelt sein können. Nur sollte niemand die andere je verletzen oder kränken.
FAMILYLAB BEGRIFFLICHKEITEN
AUTHENTISCHE KOMMUNIKATION
Wenn Wörter, Tonfall und Körpersprache und die Wörter mit den Gefühlen zusammenpassen, kann eine gute Beziehung aufgebaut werden. Ist die Sprache nicht kongruent, sind kleinere Kinder verwirrt und wissen nicht, welchen Teil der Botschaft sie ernst nehmen sollen. Ältere Kinder, vor allem in der Pubertät, schalten oft ganz ab. Wenn es uns aber gelingt, authentisch zu sein, uns klar und persönlich auszudrücken, werden wir besser gehört. Ein guter Anfang ist es, Ich-Botschaften zu formulieren. Es ist wirklich erstaunlich, wie gut das funktioniert, wenn man sich nicht auf Regeln oder Konventionen beruft und sich auch nicht in langwierige Argumentationen verwickeln lässt, sondern z. B. einfach nur sagt: „Bitte komm vom Fensterbrett runter, ich halte es nicht aus, wenn du da oben sitzt, das macht mir Angst.“
In nahen Beziehungen geht es vor allem um den persönlichen Ausdruck, und je mehr dieser von vorwurfsvollen, appellierenden oder ausweichenden Formulierungen verdeckt wird, desto weniger bekommen wir das, was wir eigentlich brauchen: Nähe, Anerkennung und Empathie.Jesper Juul
BEDÜRFNIS/WUNSCH
Während Rosenberg bei der Entwicklung der gewaltfreien Kommunikation keinen großen Unterschied zwischen Wunsch und Bedürfnis macht, legt Juul im Umgang mit Kindern Wert darauf, zwischen diesen beiden Regungen zu unterscheiden.
Kinder kennen zunächst noch keinen Unterschied zwischen dem, was sie wirklich brauchen, und dem, worauf sie gerade Lust haben. Um so mehr müssen sich die Eltern dieses Unterschiedes bewusst sein. Noch immer werden wir von der Armut und der autoritären Kindererziehung früherer Zeiten geprägt und auch die universelle Sehnsucht des Kindes, genau das zu tun und zu bekommen, worauf es gerade Lust hat, ist tief in unserem Bewusstsein verankert. So erklärt sich zumindest teilweise die zunehmende Neigung vieler Eltern, ihr Verhalten von der momentanen Lust und Unlust ihrer Kinder abhängig zu machen.Jesper Juul
Von ihren Eltern können die Kinder lernen, zwischen momentaner Lust und Bedürfnis zu unterscheiden und welchem von beidem sie den Vorzug geben wollen. Ein Weg dahin kann sein, die Frage „Wozu hast du Lust?“ durch Fragen wie „Was willst du (am liebsten)?“, „Was möchtest du gerne?“ zu ersetzen.
Eltern, die die Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Kinder übernehmen und diesen helfen herauszufinden, was sie wirklich wollen, gehen nicht jederzeit auf die momentanen Wünsche der Kinder ein. Oft verlangt dies von den Eltern große Selbstüberwindung, fördert aber die Entscheidungskompetenz der Kinder und ist eine liebevollere Reaktion als der Versuch, den Kindern jede Frustration zu ersparen.
KOOPERATION/INTEGRITÄT
Wir alle geraten unser Leben lang in Konflikt mit unserem Drang, mit den Menschen, die uns am Herzen liegen oder von denen wir abhängig sind zu kooperieren (sich anpassen, nacheifern, einordnen, Kompromisse eingehen), und dem Bedürfnis, unsere Integrität (Selbständigkeit, Unantastbarkeit, Unverletzlichkeit, Eigenart) zu bewahren. Manchmal sind diese Konflikte relativ oberflächlich, manchmal können diese Konflikte aber auch von existentieller Bedeutung sein.
In dem Konflikt zwischen Kooperation und Integrität sind Kinder sehr verletzlich. Wenn sie von Eltern oder anderen Erwachsenen, mit denen sie sich verbunden fühlen oder von denen sie abhängig sind, unter Druck gesetzt werden, entscheiden sie sich vorerst immer für die Kooperation und riskieren dabei eine Beschädigung ihrer Integrität.
Dieses Konzept hat mit Themen wie Identität, Grenzen und persönlichen Bedürfnissen zu tun. Kinder können in einem großen Ausmaß ihre eigenen Grenzen setzen. Aber oft vernachlässigen sie ihre eigenen Bedürfnisse, wenn diese mit denen ihrer Eltern in Konflikt geraten. In so einem Fall kooperieren Kindern, anstatt an sich selbst zu denken. Wenn ein Kind – als Erwachsener betrachtet – nicht kooperiert („nicht hören will“, „keinen Respekt zeigt“), so liegt das daran, dass es bereits sehr lange kooperiert hat und es nun an dem letzten Rest seiner Integrität festhält (um ihn kämpft).
Bis zum Alter von 3-4 Jahren wird die Kooperation dadurch ausgedrückt, dass Kinder die Verhaltensweisen oder die emotionalen Reaktionsmuster ihrer Eltern nachahmen und kopieren.
Die Mutter bringt ihr Kind in den Kindergarten und überlässt ihr Kind nur widerstrebend den Betreuerinnen. Das Kind spürt die Emotionen der Mutter und macht jeden Morgen „eine Szene“.
Eine andere Art der Kooperation ist, dass Kinder die Emotionen der Erwachsenen zum Ausdruck bringen.
Die Mutter hat am frühen Morgen einen wichtigen Termin (Aufregung, Nervosität), das Kind bekommt hohes Fieber, das im Laufe des Tages wieder verschwindet. Oder das Kind zeigt Unruhe, wird weinerlich und ablehnend, sobald es diese Gefühle bei einem Elternteil wahrnimmt.
Kinder kooperieren meist unentwegt mit ihren Eltern. Der Wunsch, seine Eltern glücklich zu machen, ist von Geburt an stark ausgeprägt und ein wesentlicher Faktor des Kooperationswillens. Wird allerdings zu lange mit den Bedürfnissen der Erwachsen kooperiert, entsteht das Symptom der Überkooperation – plötzliches Einnässen im Kindergarten, aggressives Verhalten oder Ähnliches. In so einem Fall gilt es, sich auf die Ursachen-Suche bei den Erwachsenen zu machen (Veränderungen, Stress, …).
SELBSTVERTRAUEN, SELBSTGEFÜHL & SELBSTWERT
SELBSTVERTRAUEN: Was ich kann, worin ich gut bin, was ich leisten kann.
SELBSTGEFÜHL & SELBSTWERT: Wer ich bin und was ich davon halte, so zu sein. Eine realistische, nuancierte und annehmende Beziehung zu mir selbst.
SELBSTGEFÜHL
Das Fundament für das Selbstgefühl ist die Erfahrung, für die Menschen, die uns am meisten bedeuten, wertvoll zu sein. Die schlimmsten Feinde für das Selbstgefühl sind psychische und physische Gewalt, sexuelle Übergriffe, die Definitionsmacht der Erwachsenen, Kritik, übertriebene Besorgnis, unnötige Fürsorge und Hilfe, sowie das Projekt der Eltern (gewesen) zu sein.
Das Selbstgefühl eines Kindes wird unterstützt wenn wir…:
• Persönlich und offen mit uns und unserem Kind umgehen,
• Uns dafür interessieren, wer unser Kind ist und dafür, was das Kind tut,
• Das Erleben/die Gefühle unseres Kindes anerkennen und ernst nehmen,
• Neues, das uns auffällt, würdigen,
• Unserem Kind eine persönliche Sprache geben,
• Unserem Kind sagen, wie es unser Leben bereichert und wie wir von ihm lernen können,
• Uns in Konfliktsituationen in die Wirklichkeit unseres Kindes hineinversetzen.
SELBSTWERT
Wie ich mich selbst in meinem Wert einschätze, hängt von zwei Komponenten ab:
• Wie gut kenne ich mich selbst?
Mein inneres und äußeres Verhalten, meine Gefühle, meine Werte und meine persönlichen Grenzen. Diese Komponente entwickelt sich das ganze Leben lang. Das Tempo hängt davon ab, wie mein Umfeld mit mir interagiert.
• Wie stehe ich in moralischer und gefühlsmäßiger Hinsicht zu mir, zu dem, was ich über mich selbst weiß?
Diese Komponente hängt gänzlich davon ab, wie meine Eltern und erwachsene Bezugspersonen mit mir interagieren.