Wie viele bin ich?

    Abgesehen davon, dass ich ein Mensch – eine Frau bin, die lebt, atmet und ein bestimmtes Aussehen und Verhalten hat, bin ich z. B. noch eine erfolgreiche Informations-Designerin, eine engagierte Trainerin, ich bin Partnerin, ich bin Freundin, ich bin Mutter, ich bin Tochter und auch Schwester. Es gibt also die berufliche Rolle, die partnerschaftliche Rolle, die soziale Rolle, die elterlich-kindliche Rolle und die geschwisterliche Rolle. Jede Rolle ist mit unterschiedlichen Bedeutungen und Erwartungen verknüpft und die Ansichten über die jeweilige Bedeutung können sehr verschieden sein. Im Laufe eines Tages setze ich ständig Hüte auf und ab, nur den Selbst-Hut lege ich nie ab, er ist immer da.

    Einen guten Einblick in diese Thematik geben der Artikel von Christiane Jendrich und der von Susanne Schäfer, deren Gedanken ich im Folgenden kurz umreiße:

    Von Bedeutung für die Entwicklung unserer Rollen ist sowohl unsere Disposition (individuelle Anlagen und Eigenschaften) als auch die Struktur der Familie, aus der wir kommen (Welchen „Bedarf“ hat sie? Braucht sie vielleicht eine Stimmungsaufhellerin oder ein Kind, das dieser Partnerschaft/Ehe Sinn gibt? Soll das Kind möglicherweise das erreichen, was den Eltern versagt blieb?).

    Rollen formen sich auch nach der Aussicht auf Erfolg. Wenn eine bestimmte Verhaltensart mit Aufmerksamkeit, Zuwendung und Wertschätzung bedacht wird, wird sie vom Kind so lange wiederholt werden, bis sie zur Gewohnheit wird. Ebenfalls geht es um die „Verfügbarkeit“ im System (Welcher Platz, welche Nische ist noch frei, welcher Platz oder welche Rolle ist schon von den Geschwistern belegt?).

    Wenn wir uns auf eine Rolle festgelegt fühlen oder sie als nicht mehr zu uns passend empfinden und wenn wir (oder andere Menschen) Erwartungen an uns hegen, die wir nicht erfüllen können oder auch nicht (mehr) wollen, dann stellt sich die Frage, ob – und wenn ja, wie – man ungeliebte Rollen abgeben kann. Was ist dabei hinderlich, was hilfreich?

    Wir können uns bei jeder Rolle fragen: Bin ich das? Fühle ich mich wohl so, wie ich mich gebe? Oder ist es anstrengend und fühlt sich fremd an? Und wie sehen meine Erwartungshaltungen in dieser oder jener Rolle aus? Wo will ich perfekt sein, wo reichen 80 Prozent aus und wo vielleicht noch weniger?

    Jeder Mensch hat heute viele Rollen, bewegt sich in verschiedenen Lebenswelten, realen und ersehnten, vergangenen, gegenwärtigen und prospektiven, und entwickelt entsprechend viele Teilidentitäten. Ein Teil von uns will die Beziehung, der andere nicht, ein Teil will einen festen Job, der andere frei sein, und manchmal will eben auch ein Teil Mutter sein und ein Teil nicht.

    Wir verändern uns immerzu und werden dabei nie fertig. All das bringt Spielraum mit sich, aber auch Unruhe: Mit jedem Wechsel der Arbeit, des Wohnorts, der Familienstruktur ändert sich ein Teil der Identität. Zugleich ergeben sich stets neue Möglichkeiten, die eigene Identität flexibel zu gestalten.

    Es sei heute schwierig, überhaupt eine konstante Identität zu haben, schreibt Eric Lippmann in seinem Buch Identität im Zeitalter des Chamäleons. Die vielen Seiten der eigenen Identität zu entdecken, sei nicht nur eine Chance, sondern auch eine Pflicht. Je mehr Veränderungen wir erlebten, desto häufiger seien wir gezwungen, unsere Identität anzupassen. Hier sieht Lippmann ein Problem: „Man muss sich immer schneller verändern, aber Identitätsbildung braucht eigentlich Zeit.“

    Auch Hubert Hermans reagiert auf die Veränderungen unserer Gesellschaft. Er betrachtet das menschliche Selbst als dezentralisiert, beweglich und veränderbar. Nach seiner Theorie des „Dialogischen Selbst“ besitzt jede Person mehrere Versionen von sich selbst, die miteinander kommunizieren. „Unser Geist ist bevölkert mit anderen Menschen“, sagt Hermans. „Wir sind nie allein.“ Und deshalb laufen auch gesellschaftliche Prozesse zwischen diesen Akteuren ab: Sie tragen Konflikte aus, sie beraten einander, sie verständigen sich.

     

     

    Jendrich, Christiane: Psychologie im Dialog. Viele Rollen, eine Persönlichkeit.
    Schäfer, Susanne: Ich bin viele, na und! Magazin ZEIT WISSEN Nr. 4/2015 online
    Category
    Persönlichkeit, Rollen, Wie viele bin ich?