„Wir leben im Katastrophenmodus“
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Online-Artikel
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Online-Artikel
Rastlosigkeit ist dem Menschen zur Lebensgewohnheit geworden. Es fällt ihm schwer, nichts zu tun. Der Psychiater Michael Winterhoff über Erziehung im Hamsterrad und Eltern unter Anspannung.
Herr Winterhoff, um ein bisschen aus der Einleitung Ihres in dieser Woche erscheinenden Buches „Lasst Kinder wieder Kinder sein“ zu zitieren: Fühlen Sie sich überdurchschnittlich oft gehetzt? Haben Sie immer häufiger die Befürchtung, die Arbeit nicht zu bewältigen oder den Anforderungen Ihres privaten Umfeldes nicht gerecht werden zu können?
Das ist tatsächlich etwas, das ich früher nicht kannte und seit ein paar Jahren zunehmend erlebe.
Schreiben Sie deshalb als Kinderpsychiater plötzlich über Dauerstress und Überforderung von Erwachsenen?
Ich befasse mich mit diesem Thema, weil sich immer mehr Eltern, die mit ihren Kindern in meine Praxis kommen, in diesem Zustand befinden. Und bei den Kindern erlebe ich seit vier, fünf Jahren, dass sie Schwierigkeiten haben, Reize zu filtern. Außerdem können sie nicht aus Konflikten lernen, weil sie den Zusammenhang zwischen ihrem Verhalten und den Folgen nicht erkennen – trotz bester Intelligenz.
Sind das die Entwicklungsstörungen, die Sie in Ihren „Tyrannen“-Bestsellern beschrieben haben?
Die Qualität ist neu. Ich mache meinen Beruf seit 27 Jahren, aber diese Phänomene habe ich vorher nie erlebt. Da kommt eine hochbrisante Welle auf uns zu. Wenn Eltern nicht in sich ruhen, wenn Kinder fortlaufend unter Druck stehen, weil immer mehr Erwachsene unter Druck stehen, fehlt die Voraussetzung für die emotionale Entwicklung. Die Basis der Psyche kann sich so nicht bilden. Dabei haben diese Kinder oft beziehungsfähige Eltern, die sich größte Mühe geben.
Sie sprechen von einem Dilemma der Erwachsenen. Wir sollen Stabilität und Sicherheit vermitteln, leben aber in einer Zeit der Instabilität und Unsicherheit.
Noch 1990 lebten wir in einer analogen Zeit: Wenn ich nicht im Raum war, war ich telefonisch nicht erreichbar, der Brief kam per Post, der Arbeitsplatz war relativ sicher, es gab Rente und Krankenkasse. Heute, in der digitalen Zeit, ist man permanent erreichbar. Ständig treffen SMS oder E-Mails ein; Arbeitsplatz, Krankenversicherung und Rente sind unsicher. Früher kam man nach Hause und war entspannt. Heute machen viele zwischen Arbeit und Freizeit keinen Unterschied mehr. Aber das Entscheidende ist, dass wir permanent mit Krisen- und Katastrophennachrichten überhäuft werden.
Ist das so? Ich kann den Fernseher doch ausschalten.
Das wäre eine gesunde Reaktion. Sie distanzieren die Nachricht und sagen, da habe ich nichts mit zu tun. Die Gefahr ist nur, dass Sie irgendwann nicht mehr distanzieren können, weil es zu viel wird. Dann stellt unsere Psyche auf Katastrophenmodus um.
Was meinen Sie damit?
Wenn am Rhein eine Flut angekündigt wird, sitzt niemand auf dem Sofa und sieht fern. Jeder rast in seinen Keller und räumt ihn leer. In der Katastrophe ist der Mensch nach außen gerichtet und rettet, was zu retten ist. Man spürt sich nicht mehr selbst, sogar Hunger wird zurückgestellt. Eltern, deren Psyche auf Katastrophe umgeschaltet hat, sind wie in einem Hamsterrad. Sie sind innerlich getrieben, selbst wenn sie nach außen ruhig wirken. Sobald sie morgens wach werden, startet das Gedankenkarussell, und sie rasen los. Wenn sich die Psyche auf diese Schlagzahl eingestellt hat, gibt es keine Entspannungsphasen mehr.
Verglichen damit, wie frühere Generationen Krankheit, Krieg und Tod ausgesetzt waren, leben wir in katastrophenarmen Zeiten.
Deshalb sage ich ja: Es ist nur eine Täuschung. Der Hebel steht auf Katastrophe, aber dieser Hebel lässt sich wieder umlegen.
Und was macht der Katastrophenmodus mit den Kindern?
Anspannung wirkt sich zunächst atmosphärisch aus. Wenn wir hier einen schlafenden Säugling im Raum hätten, und zwischen uns kämen Spannungen auf, dann würde das Baby wach und vermutlich sogar schreien. Die Ruhe oder eben auch die innere Unruhe eines Erwachsenen wird vom Kind sofort wahrgenommen. Zweitens muss alles immer flott gehen. Gestressten Eltern fehlt die Geduld, die man bei einem Kleinkind braucht, das sich eben langsam oder auch mal gar nicht anzieht. Dieser permanente Druck überfordert das Kind, die Reaktion ist Nicht-Entwicklung. Außerdem ruiniert das Hamsterrad jegliche Gelassenheit. Viele Eltern halten es nicht mehr aus, wenn ihr Kind vorübergehend in der Schule schlechter wird.
Würden Sie sagen, schon Kinder und Jugendliche leiden heute unter Druck und Überforderung?
Ja, extrem.
Und das ist nicht die Folge vollgepackter Terminkalender und ehrgeiziger Eltern?
Immer mehr Kinder leiden unter Schlafstörungen, einem Phänomen, das normalerweise nur Erwachsene zeigen. Das hat nicht immer und nur die Ursachen, auf die ich hinweise. Aber der enorme Druck, unter dem die Eltern stehen und in dem das Kind einfach lebt, spielt eine Rolle. Das überträgt sich.
Schade ich meinem Kind schon, wenn ich es zur Eile antreibe?
Es geht nicht um Ausnahmesituationen. Und es ist auch nicht schlimm für ein Kind, wenn Eltern mal angespannt sind, das ist sogar eine wichtige Erfahrung. Aber ich bin Kinderpsychiater, kein Erziehungsberater, ich kann Ihnen sagen, welche Entwicklung beim Kind nicht altersgemäß ist, was aber zunächst mit Erziehungsfragen gar nichts zu tun hat. Ich arbeite mit Kindern, die in der Schule, zu Hause oder bei der Berufsfindung scheitern, ohne dass bemühte Eltern das Problem beheben könnten. Als Tiefenpsychologe frage ich immer: Was stimmt nicht im System? Während es früher nur um das System Familie ging und um Probleme, die mit der Lebensgeschichte der Eltern zusammenhingen, ist jetzt die Gesellschaft der Hintergrund. Anspannung ist uns zur Lebensgewohnheit geworden.
Meine Tochter hat sich neulich beschwert, dass ihr Papa abends beim Vorlesen immerzu auf sein Handy guckt. Meinen Sie das?
Es geht nicht um Ihr Verhalten dem Kind gegenüber. Entscheidend ist, ob Sie noch in der Lage sind, zwanzig Minuten nichts zu tun. Sie lesen nicht Zeitung, Sie hören keine Musik, Sie sitzen einfach nur da. Ein Erwachsener im Katastrophenmodus hält das nicht aus. Er ist mit seinem Kind auf dem Sportplatz, denkt aber schon an die nächste Verabredung.
Gilt das mit dem Stress und der Überforderung auch für die Verkäuferin und den Arbeitslosen, oder handelt es sich um ein Mittelschichtsphänomen?
Ich sehe das überall. Es ist egal, ob ich im Hamsterrad routiere, weil ich arbeite, Hobbys pflege oder den ganzen Tag fernsehe.
Was ist mit den üblichen Anti-Stress-Tipps? Prioritäten setzen, die To-do-Listen abarbeiten . . .
Das ändert nichts, solange ich im Hamsterrad bin. Wenn ich eine Familie mit drei Kindern berate und jedes Kind ist in zwei Vereinen, empfehle ich, den Aufwand zu reduzieren. Dann argumentieren die, warum das nicht geht. Oder sie streichen die Vereine und laden stattdessen ständig die Nachbarskinder ein. Die Eltern halsen sich unbewusst immer etwas auf, sie suchen Beschäftigung, obwohl sie das Gefühl haben, sie können nicht mehr.
Sie predigen die Rückkehr zur Intuition, zu einem Gespür für das, was das Kind braucht.
Das ist die einzige Chance.
Ist das nicht illusorisch? Wir sind geradezu umzingelt von Erziehungsratgebern, den Tipps unserer Schwiegermütter und anderen penetranten Ansprüchen.
Es ist im Menschen angelegt, mit Kindern umzugehen. Dafür brauche ich keinen Ratgeber; es ist sogar besser, nicht zu viel zu wissen, weil das irritiert. Man muss allein in den ersten sechs Lebensjahren je nach Alter so unterschiedlich auf Kinder reagieren – das können Sie nicht über den Kopf machen, das geht nur aus dem Bauch heraus.
Das liest sich bei Ihnen fast magisch-naturwüchsig.
Nein, bitte nicht. Es geht für mich nicht um die Frage, was richtig ist. In der einen Familie geht es lustiger, in der anderen ernster zu, in der dritten herrscht Laissez-faire, in der vierten sind die Eltern streng. Aber ich frage mich: Wieso gibt es immer mehr Erwachsene, die nicht aus dem Bauch heraus auf Kinder reagieren?
Das liegt an dieser Mischung aus Überforderung und Stress?
Davon bin ich überzeugt.
Wie finde ich zu Ruhe und Intuition zurück? Geht es darum, mir bei der Arbeit keinen Blackberry aufdrücken zu lassen?
Ich verteufele die Neuheiten der Welt nicht. Die Frage ist, wie ich diese Entwicklungen verkraften kann, ohne in Dauerstress zu geraten. Das muss jeder für sich entscheiden. Es kann sein, dass Erwachsene das Handy zunehmend am Wochenende ausmachen und keine E-Mails mehr lesen. Aber das wird das Problem nicht lösen.
Sondern?
Lassen Sie sich mal darauf ein, fünf Stunden durch einen Wald zu gehen. Wichtig wäre, dass Sie nicht wandern, sondern einfach gehen, ohne Ablenkung. Sie hören keine Musik, sie haben weder ein Handy noch einen Hund dabei, und Sie joggen nicht.
Fünf Stunden kriege ich doch in meinem Alltag gar nicht unter!
Fünf Stunden bekommt jeder unter, selbst mit Kindern. Es ist immer die Frage, wofür ich mir Zeit nehme. Im Hamsterrad ist das bloß nicht vorstellbar.
Aber ich hetze doch von der Arbeit in den Kindergarten, ich muss einkaufen, kochen, Wäsche waschen, dann sind da noch die Freundinnen, und im Sport war ich auch schon zwei Wochen nicht. Wie soll ich da fünf Stunden in den Wald?
Was Sie beschreiben, ist das Hamsterrad. Nehmen Sie sich diese fünf Stunden im Wald. Sie werden es zunächst kaum aushalten. Zwei, drei Stunden lang haben Sie Druck ohne Ende, tausend Gedanken, Sie rattern vor sich hin. Dann kommen Sie auf ein unvorstellbares Plateau der Ruhe, Sie spüren sich in Ihren Grenzen, Sie haben keine Gedanken mehr, Sie nehmen die Stille wahr. Dann ist Ihre Psyche umgestellt auf Normalzustand.
Danach kann ich weitermachen wie vorher, und es reicht, einmal die Woche zum Yoga zu gehen?
Theoretisch: Ja. Sie werden aber Ihr Leben sehr verändern. Wenn Sie in sich sind, gewinnen Sie zu vielen Dingen eine innere Distanz, zu Ihrer Arbeit, zu Ihren Kindern. Gewisse Dinge werden Sie einfach nicht mehr tun.
Wollen Sie Müttern das Arbeiten ausreden, damit sie mehr Zeit für die Familie haben? Das kann es doch nicht sein!
Ich bin niemand, der wertet und vorschreibt; jeder muss selbst entscheiden, wie er sein Leben lebt. Vielleicht beschließen Sie einfach: Ich muss nicht auf die fünfte Weihnachtsfeier. Ich muss keine zwanzig Telefonate mit nach Hause nehmen. Letztlich geht es nicht um Zeit, sondern um eine Haltung. Wenn ich in mir ruhe, ist es egal, ob ich eine oder zehn Stunden mit meinem Kind verbringe.
Ihr neues Buch liest sich ein bisschen, als wollten Sie sich bei den Eltern entschuldigen, nach dem Motto: War nicht so gemeint, ich wollte euch nicht angreifen, die Gesellschaft ist schuld.
Ich wollte nie jemanden angreifen. Ich habe ein Analysemodell entwickelt, das vielen Menschen unmittelbar einleuchtet.
Sie sind heftig kritisiert worden, weil Sie Kinder Tyrannen nennen. Hat Sie das verletzt?
Ich habe Kinder nie als Tyrannen bezeichnet und würde das nie tun. Aber ich spreche aus, was passiert, wenn junge Erwachsene emotional auf dem Entwicklungsstand eines Kleinkinds sind: Die können sich nicht einfühlen und sind nicht arbeitsfähig. Das sind Tyrannen
Ich fand Ihre „Tyrannen“-Bücher Eltern wie Kindern gegenüber schematisch und lieblos.
Gerade im ersten Buch gibt es Formulierungen, die missverständlich sind, da fehlt es manchmal an Bedacht. Das tut mir leid. Aber ich wollte mit meinen Büchern wachrütteln, und das ist mir anscheinend ja auch gelungen. Jetzt ist mir wichtig, dass das neue Buch keinen so reißerischen Titel mehr hat. Es geht mir nicht darum, Panik zu schüren. Ich will die Leute erreichen, damit sich etwas bewegt.
February 23, 2016